Durch die Unfruchtbarkeit des Partners gilt eine Frau nicht als „krank”. Ebensowenig stellen die im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation vorgenommenen Eingriffe und Maßnahmen eine Heilbehandlung dar. Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
So hat das Bundesarbeitsgericht im Falle einer Frau argumentiert, die sich mit ihrem Arbeitgeber darüber gestritten hat, ob ein entstandener Vergütungsanspruch durch Aufrechnung des Arbeitgebers mit einem Rückforderungsanspruch wegen Entgeltfortzahlung erloschen ist, die er im Zusammenhang mit In-vitro-Fertilisationen an die Frau geleistet hat.
In seiner Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, dass es umstritten ist, ob durch In-vitro-Fertilisation verursachte krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit verschuldet i. S. v. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist:
- Zum Teil wird ein Verschulden generell verneint, weil die In-vitro-Fertilisation im Interesse der Arbeitnehmerin vorgenommen werde und mit verhältnismäßig geringen Risiken verbunden sei. Sie könne daher nicht gegen die Interessen eines verständigen Menschen verstoßen1. Zudem handele es sich um ein sozialadäquates Verhalten2.
- Nach anderer Ansicht – die auch vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf3 vertreten wird – soll die infolge In-vitro-Fertilisation eintretende Arbeitsunfähigkeit unverschuldet iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG sein, wenn die Voraussetzungen des § 27a SGB V erfüllt sind. Die dort vorgenommenen Wertentscheidungen seien auf das Recht der Entgeltfortzahlung zu übertragen4.
- Zum Teil wird zwar ein Verschulden verneint, eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung jedoch mit der Begründung abgelehnt, die In-vitro-Fertilisation diene allein der Erfüllung höchstpersönlicher Wünsche und der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Arbeitnehmers5.
Ob ein anspruchsausschließendes Verschulden iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vorliegt, hängt davon ab, ob krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als vorhersehbare, willentlich herbeigeführte Folge einer komplikationslosen In-vitro-Fertilisation eintritt oder sich Krankheitsrisiken realisieren, die mit der künstlichen Befruchtung oder einer ggf. durch sie bewirkten Schwangerschaft einhergehen. Verschuldet ist die Arbeitsunfähigkeit nicht schon, wenn die in § 27a SGB V genannten Voraussetzungen eines Anspruchs auf anteilige Kostentragung der gesetzlichen Krankenversicherung für Sachleistungen bei In-vitro-Fertilisation nicht erfüllt sind. Umgekehrt ist ein Verschulden nicht generell ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen von § 27a SGB V erfüllt sind. Es gibt im Entgeltfortzahlungsgesetz keine Anhaltspunkte, die eine § 27a SGB V entsprechende Einschränkung des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung oder eine an § 27a SGB V orientierte einschränkende Auslegung von § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG rechtfertigen könnten.
- Wird erst durch In-vitro-Fertilisation willentlich und vorhersehbar eine Arbeitsunfähigkeit bedingende Erkrankung herbeigeführt, ist von einem vorsätzlichen Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen, Gesundheit zu erhalten und zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankungen zu vermeiden, auszugehen und ein Entgeltfortzahlungsanspruch wegen Verschuldens iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG ausgeschlossen.
- Ein Verschulden iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG liegt nicht vor, wenn im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation, die nach allgemein anerkannten medizinischen Standards vom Arzt oder auf ärztliche Anordnung vorgenommen wird, eine zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung auftritt, mit deren Eintritt nicht gerechnet werden musste.
- Verwirklichen sich Krankheitsrisiken, weil die mit der In-vitro-Fertilisation einhergehenden Maßnahmen und Eingriffe – für die Arbeitnehmerin ohne weiteres erkennbar oder mit ihrem Wissen – nicht nach anerkannten medizinischen Standards vom Arzt oder auf ärztliche Anordnung vorgenommen wurden, ist von einem Verschulden iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG auszugehen.
- Ab dem Zeitpunkt des Embryonentransfers gelten im Hinblick auf ein Verschulden iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EFZG die gleichen Grundsätze wie bei einer durch natürliche Empfängnis herbeigeführten Schwangerschaft. Möglicherweise hat der Klägerin ein Anspruch auf Mutterschutzlohn nach § 11 iVm. § 3 Abs. 1 MuSchG zugestanden. Dieser kommt für Zeiträume nach dem Embryonentransfer, der bei einer In-vitro-Fertilisation als Beginn der Schwangerschaft anzusehen ist, in Betracht, soweit nach ärztlichem Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet ist. Dagegen scheidet für frühere Zeiträume ein Anspruch mangels Schwangerschaft aus.
In diesem Fall ist es nach Ansicht des Bundesarbeitsgericht fraglich, ob hier der Mutterschutz zum Tragen kommt und die Klägerin Anspruch auf Zahlung von Mutterschutzlohn nach § 11 MuSchG hatte. Es steht bisher nicht fest, ob den Fehlzeiten der Klägerin insgesamt oder zum Teil ein Embryonentransfer vorausging, ob die behandelnden Ärzte, indem sie zum Schutz des ungeborenen Lebens „Arbeitsunfähigkeit“ bescheinigten, konkludent ein Beschäftigungsverbot aussprachen und ob im Übrigen die Voraussetzungen eines Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs. 1 MuSchG erfüllt waren.
Aus diesen Gründen ist den Parteien im erneuten Berufungsverfahren Gelegenheit zu geben, ihren Vortrag zu ergänzen und die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Oktober 2016 – 5 AZR 167/16
- Treber EFZG 2. Aufl. § 3 Rn. 34; HK-ArbR/Spengler 3. Aufl. § 3 EFZG Rn. 19; ErfK/Reinhard 16. Aufl. § 3 EFZG Rn. 10, 28 [↩]
- Reinhard/Reinhard EFZG § 3 EFZG Rn. 87 [↩]
- LAG Düsseldorf, vom 13.06.2008 – 10 Sa 449/08 [↩]
- NK-GA/Sievers § 3 EFZG Rn. 39; Vogelsang Entgeltfortzahlung Rn. 80; Schmitt EFZG und AAG 7. Aufl. § 3 EFZG Rn. 80, 82; HWK/Schliemann 7. Aufl. § 3 EFZG Rn. 69 [↩]
- Müller-Roden NZA 1989, 128, 131 [↩]