Auch schwangeren Arbeitnehmerinnen darf aufgrund einer Massenentlassung gekündigt werden, zumindest EU-Recht steht dem nicht entgegen. Allerdings verlangen die Richtlinie 92/85/EWG zum Schutz schwangerer Arbeitnehmerin und die Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG in diesem Fall, dass der Arbeitgeber der entlassenen schwangeren Arbeitnehmerin die ihre Kündigung rechtfertigenden Gründe und die sachlichen Kriterien mitteilt, nach denen die zu entlassenden Arbeitnehmer ausgewählt wurden.
Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Vorabentscheidungsersachen des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña zur Auslegung der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)1.
Das spanische Unternehmen Bankia nahm am 9. Januar 2013 Konsultationen mit der Arbeitnehmervertretung wegen einer geplanten Massenentlassung auf. Am 8. Februar 2013 erzielte das Verhandlungsgremium eine Vereinbarung, in der die maßgeblichen Kriterien dafür festgelegt wurden, welchen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte und welche in dem Unternehmen weiter beschäftigt würden. Am 13. November 2013 stellte Bankia gemäß dieser in dem Gremium getroffenen Vereinbarung einer Arbeitnehmerin, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, ein Kündigungsschreiben zu. Darin hieß es u. a., dass für die spanische Provinz, in der sie arbeite, weitgreifende Personalanpassungen erforderlich seien und dass nach dem Bewertungsverfahren, das das Unternehmen in der Konsultationsphase durchgeführt habe, ihr Ergebnis zu den niedrigsten in dieser Provinz zähle.
Die betroffene Arbeitnehmerin erhob gegen ihre Kündigung eine Klage beim Juzgado Social No 1 de Mataró (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 1 in Mataró, Spanien), das jedoch zugunsten von Bankia entschied. Dagegen legte sie ein Rechtsmittel beim Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Oberstes Gericht von Katalonien, Spanien) ein, das den Gerichtshof um die Auslegung des Kündigungsverbots zugunsten schwangerer Arbeitnehmerinnen, wie es die Richtlinie 92/85 über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen vorsieht, in Fällen ersucht hat, in denen ein Massenentlassungsverfahren im Sinne der Richtlinie 98/59 des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen2 durchgeführt wird.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können ‑bzw. müssen- die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache sodann im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise auch andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Die Richtlinie 92/85 verbietet die Kündigung von Arbeitnehmerinnen in der Zeit vom Schwangerschaftsbeginn bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs; davon ausgenommen sind die nicht mit ihrem Zustand in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle, die entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig sind.
In seinem jetzt verkündeten Urteil entschied der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin aufgrund einer Massenentlassung zulässig ist. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine Kündigungsentscheidung, die aus Gründen erging, die wesentlich mit der Schwangerschaft der Betroffenen zusammenhängen, mit dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Kündigungsverbot unvereinbar ist. Dagegen verstößt eine Kündigungsentscheidung in der Zeit vom Schwangerschaftsbeginn bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs aus Gründen, die nichts mit der Schwangerschaft der Arbeitnehmerin zu tun haben, nicht gegen die Richtlinie 92/85, wenn der Arbeitgeber schriftlich berechtigte Kündigungsgründe anführt und die Kündigung der Betroffenen nach den betreffenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig ist. Hieraus folgt, dass die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründe, die im Rahmen von Massenentlassungen im Sinne der Richtlinie 98/59 geltend gemacht werden können, unter die nicht mit dem Zustand der Arbeitnehmerinnen in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle im Sinne der Richtlinie 92/85 fallen.
Ferner hat der Unionsgerichtshof befunden, dass die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitgeber einer schwangeren Arbeitnehmerin im Rahmen einer Massenentlassung kündigen kann, ohne ihr weitere Gründe zu nennen als diejenigen, die die Massenentlassung rechtfertigen, solange die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer angegeben werden.
Hierzu ist nach den beiden Richtlinien in ihrer Kombination nur erforderlich, dass der Arbeitgeber
- die nicht in der Person der schwangeren Arbeitnehmerin liegenden Gründe schriftlich darlegt, aus denen er die Massenentlassung vornimmt (nämlich wirtschaftliche, technische oder sich auf Organisation oder Produktion des Unternehmens beziehende Gründe), und
- der betroffenen Arbeitnehmerin die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer nennt.
In Beantwortung einer anderen Frage des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña hat der Unionsgerichtshof hingegen auch entschieden, dass die Richtlinie 92/85 einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Kündigung von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen nicht grundsätzlich präventiv verbietet und im Fall einer widerrechtlichen Kündigung lediglich deren Unwirksamkeit als Wiedergutmachung vorsieht. Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Richtlinie 92/85 ausdrücklich zwischen dem präventiven Schutz vor der Kündigung selbst und dem Schutz vor den Folgen der Kündigung als Wiedergutmachung unterscheidet. Die Mitgliedstaaten müssen daher diesen doppelten Schutz gewährleisten. Angesichts der Gefahr, die eine mögliche Entlassung für die physische und psychische Verfassung von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillenden Arbeitnehmerinnen darstellt, einschließlich des besonders schwerwiegenden Risikos, dass eine schwangere Arbeitnehmerin zum freiwilligen Abbruch ihrer Schwangerschaft veranlasst wird, kommt dem präventiven Schutz im Rahmen der Richtlinie 92/85 besondere Bedeutung zu. Das in der Richtlinie vorgesehene Kündigungsverbot trägt diesen Bedenken Rechnung. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Schutz im Wege der Wiedergutmachung selbst dann, wenn er zur Wiedereingliederung der entlassenen Arbeitnehmerin und zur Zahlung der wegen der Entlassung nicht erhaltenen Gehälter führt, den präventiven Schutz nicht zu ersetzen vermag. Folglich dürfen sich die Mitgliedstaaten nicht darauf beschränken, im Fall einer ungerechtfertigten Kündigung lediglich deren Unwirksamkeit als Wiedergutmachung vorzusehen.
Zwei weitere Fragen des spanischen Gerichts hat der Unionsgerichtshof dahin beantwortet, dass die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Rahmen einer Massenentlassung im Sinne der Richtlinie 98/59 für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen weder einen Vorrang der Weiterbeschäftigung noch einen Vorrang der anderweitigen Verwendung vor dieser Entlassung vorsieht. Hierzu sind die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 92/85 nämlich nicht verpflichtet. Da diese Richtlinie lediglich Mindestvorschriften enthält, besitzen die Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit, diesen Gruppen von Arbeitnehmerinnen einen weiter gehenden Schutz zu gewähren.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 22. Februar 2018 – C ‑103/16